Kapitel fünf: Die Deutschen kommen.
Am 27. Dezember begann das zweiwöchige Geburtsfest des Propheten Mohammed. Natürlich gab es im Dar wieder täglich eine Hadra. Und aus Deutschland kam eine Gruppe, die aber am nächsten Tag gleich nach Khartoum weiterflog, um den Scheich zu sehen. Ich war eifersüchtig auf die Leute, denn die meisten von ihnen hatten kein Visum und konnten trotzdem fahren, während ich hier schon so lange festsaß.
Mustafa, der in Deutschland seine sufischen Traumseminare hielt, sagte zu mir mit Spott und Schadenfreude : "Der einzige Grund, warum du hier so lange auf dein Visum wartest, ist der, daß du noch nicht genug gelernt hast."
Außer den Sudanesen versuchten alle hier mir Schuldgefühle zu geben, weil sie sich darüber ärgerten, daß ich dem Betrieb hier gegenüber so skeptisch war. Ich konnte allerdings keinen Grund sehen, mich deshalb schuldig zu fühlen. Das Größte, dachte ich, mußte den Test der Vernunft bestehen und es mußte offen sein für jede Art der Annäherung. Allerdings mußte ich zugeben, daß ich bisher noch keinen konsequenten Versuch der Selbstdisziplinierung gemacht hatte und die Angst davor konnte natürlich ein Grund für meine Zweifel sein. Aber all das, dachte ich, würde sich aufklären, wenn ich Scheich Mahmud Abu Bakr in Khartoum selber gegenüberstehen würde.
Am Tag der Abreise der Deutschen erhielt ich mein Visum und ich überlegte, wie und wann ich nun fahren sollte. Am nächsten Tag sollte eine weitere Gruppe aus Deutschland kommen, unter ihnen Matthäus und Ira, die ich in Istanbul verfehlt hatte und die hätte ich gern gesehen. Ich wollte am Abend mit Scheich Ghafar über meine Reise sprechen.
Am Nachmittag traf ich Walter aus Worms, der auch allein hierhergekommen war - vor allem, wie er sagte, um genaueres über den Tod von Scheich Soltan Ali zu erfahren. Ein Deutscher, der vor zweieinhalb Monaten in Khartoum gewesen war, hätte ihm nämlich erzählt, dort sei gesagt worden, man habe ihm den Todesengel schicken müssen, weil er zu weit vom Weg abgewichen wäre. Mustafa habe ihm erzählt, daß ihm Scheich Soltan Ali nur wenige Tage vor seinem Unfall gesagt habe, man könne jeden Menschen töten, indem man vierzig mal die Sure sechsunddreißig des Koran rezitiere. Nach Meinung von Mustafa habe man Scheich Soltan Ali in diesem Leben für seine Abirrung bestraft, damit er im Jenseits den vollen Lohn für seine gute Arbeit empfangen könnte.
Walter wollte am Abend darüber mit Scheich Ghafar sprechen, aber Scheich Ghafar ging nach der Hadra weg, ohne ihm die Gelegenheit dazu zu geben. Es war uns beiden klar, daß man hier keine Fragen wünschte, sondern nur fraglosen Gehorsam und blinden Glauben. Deshalb wurden auch wir, die wir selbständig gereist waren, ignoriert, bzw. höflich abgefertigt, während für die Gruppe alle Register gezogen wurden.
Aber immerhin, Scheich Gamals Rechtsanwalt Abdel Aziem half mir, mein ägyptisches Visum zu verlängern, das vor drei Wochen abgelaufen war. Ich bekam noch sieben Tage, also gerade genug um mit dem Zug nach Assuan zu fahren und von dort aus ein Boot nach Wadi Halfa zu nehmen und dann mit dem Zug nach Khartoum weiterzufahren. Für Luxor und Abu Simbel reichte die Zeit nicht, aber ich hatte ohnehin kein großes Interesse mehr an den Altertümern und Luxor hatte ich ja schon gesehen. Gleichzeitig versuchte Abdel Aziem, Walter ein Visum für den Sudan zu besorgen. Aber es wurde uns gesagt, das konnte so knapp zuvor nur vom Sudan aus erledigt werden. Und dann trafen wir eine Frau, die noch am gleichen Tag nach Khartoum flog. Dieser gab Abdel Aziem Walters Daten.
Schließlich wurde uns gesagt, wir könnten Scheich Ghafar am Nachmittag besuchen. Aber als wir hinkamen, ließ er uns ausrichten, er würde um sechs ins Dar kommen. Als wir um die Zeit dort waren, gab es da eine Hochzeit. Scheich Ghafar kam, aber nicht, um mit uns zu sprechen, sondern zur Hochzeit. Damit war klar, daß er keine Lust hatte, irgendwelche Fragen über Scheich Soltan Ali zu beantworten.
Am ersten Januar ging ich mit Walter Alt-Kairo ansehen, besonders die alten koptischen Kirchen und das koptische Museum. Und am Abend kam dann die zweite Gruppe der Deutschen mit Matthäus und Ira. Beim Begrüßungsessen für die Gruppe teilte Abdel Aziem mir mit, daß er für mich einen Flug buchen würde, gemeinsam mit der deutschen Gruppe: "Ein Geschenk von Scheich Ghafar", sagte er. Ich freute mich zwar, daß ich nun mit meinen Freunden fahren konnte, aber gleichzeitig ärgerte ich mich über Scheich Ghafar, der mich nicht allein fahren lassen wollte und lieber viel Geld ausgab, das natürlich nicht seines war, sondern das der Tarieqa. Scheich Ghafar wollte auch, daß ich wieder mit der Gruppe zurückkäme: "Für die Afrikareise wird noch eine Zeit kommen", sagte er, "zu der du mehr dafür bereit bist." Aber ich wollte nicht hierher zurückkommen und sagte Abdel Aziem er solle nur einen einfachen Flug buchen.
Am zweiten
Januar abends flogen wir dann mit vierstündiger Verspätung von Kairo ab. Auch
Walter war mit dabei. Und am nächsten Morgen sah ich zum ersten Mal den
legendären Scheich mit eigenen Augen.
Die Sonne brannte bereits, als wir gegen neun die Sauya verließen, das Haus der Tarieqa hier, in dem wir wohnten. Es waren fünf Minuten zu gehen bis zum Haus des Scheichs. Wie es schien, waren wir in einem Vorstadtbezirk. Alle Häuser waren hinter einer hohen Mauer versteckt, die Straßen unasphaltiert, holprig und staubig, links und rechts der Straße tiefe Gräben. Der, mit dem ich ging, kannte den Weg bereits. Die wenigen Leute auf der Straße und auch die Kinder schauten uns zwar an, aber wesentlich weniger neugierig als ich es von Ägypten her gewohnt war. Die Sudanesen hatten sich in Ägypten auch immer darüber beklagt: "Die Ägypter sind ein grobschlächtiges Volk ohne Manieren und ohne Stolz."
Das Haus des Scheichs lag an einer Kreuzung, mit dem Eingang an der Ecke. Auch dieses Grundstück wurde von einer hohen Mauer eingefaßt mit Stacheldraht oben. Hinter der Eingangstür zogen wir die Schuhe aus und gingen barfuß über den kleinen Vorplatz in das Gebäude. Wir kamen in einen großen Raum, durch dessen ganz linke Front sich eine gepolsterte Bank zog. Einige von unserer Gruppe waren bereits da, am Boden vor dem Scheich, der in einem tiefen gepolsterten Sessel saß und zu ihnen sprach. An der Wand rechts hinter ihm standen einige große Betten.
Der Scheich blickte auf und lächelte. Der vor mir ging, ging zu ihm hin, küßte ihm die Hand und berührte sie mit seiner Stirn. Ich machte es genauso. Ich war überrascht wie weich und zart seine Haut war. Ich sagte nur "Salamu aleikum". Er begann mit dem üblichen sudanesischen Grußzeremoniell, aber ich konnte mir das nicht merken, obwohl ich es schon hundertmal gehört, gesehen und sogar nachzumachen versucht hatte. Große Wärme strahlte von ihm aus. Wir setzten uns und der Scheich sprach weiter. Er sprach zu zwei Ägyptern, Assistenten von Scheich Ghafar, die unmittelbar zu seinen Füßen saßen. Auch eine Frau saß unmittelbar vor ihm, von der ich dann erfuhr daß es Mimma Ghafar war, die Frau von Scheich Ghafar. Die Seiten waren aufgeteilt wie in der Kirche, links die Frauen, rechts die Männer.
Das erste, das
an dem Tag übersetzt wurde, war etwas über die Möglichkeiten, die Wirklichkeit
Gottes zu erfahren.
"Es gibt drei Wege", sagte der Scheich, "entweder durch große Angst in Todesnot, durch große Sehnsucht oder durch das Dhikr. Die Todesangst kann man nicht jedem zumuten, die große Sehnsucht haben viele nicht, aber das Dhikr mit dem Aurad ist ein Weg für alle."
Dann erklärte er die verschiedenen Stufen des Dhikr:
"Es beginnt mit der Zunge 'Allah', 'Allah', 'Allah', 'Allah'. Ihr müßt das Aurad mit der Zunge machen, nicht im Geist lesen, sondern mit der Zunge die Laute formen. Die nächste Stufe ist dann das Dhikr des Herzens, wo euch ständig bewußt sein wird, wie das Herz unentwegt 'Allah' sagt. Zuerst werdet ihr es bemerken sooft ihr euch daran erinnert, dann werdet ihr euch sofort nach dem Aufwachen am Morgen daran erinnern, bis ihr es dann immer hört, Tag und Nacht. Dann ist der Weg frei für das Dhikr der Seele, dann macht jede Zelle in eurem Körper Dhikr und damit wird alles, was ist, gegenwärtig."
Den Vorgang dieses immer tieferen Bewußtwerdens erklärte der Scheich nun im Einzelnen und beantwortete die Fragen dazu. Die Schwierigkeit lag für uns immer in der Übersetzung, denn die Übersetzer waren immer versucht, ihre eigenen Ideen zu verkünden und wir hatten oft das Gefühl, daß ein kurzer Satz des Scheichs vom Übersetzer so lange erklärt wurde, bis von dem, was der Scheich gesagt hatte, gar nichts mehr übrig sein konnte.
Zu Mittag hieß es, wir könnten am Nachmittag einen Besuch am Markt in Omdurman machen. Die mitmachen wollten, fuhren zuerst zu dem Haus, in dem die Frauen wohnten. Aber als wir dort waren hieß es, der Markt sei geschlossen, weil es eine Demonstration gab wegen der Erhöhung des Zuckerpreises um zehn Piaster.
Die Frauen wohnten in dem großen Haus eines ehemaligen Generals. Wir wurden bewirtet wie die Fürsten. Man wollte uns in den Himmel versetzen, wohin wir hier auch kamen. Auch der Scheich paßte in das Bild mit seiner himmlisch ungezwungenen Freundlichkeit und Weisheit.
Am Abend wurden wir zur Hadra nach Omdurman gefahren. Auf einem riesigen Platz hatten eine Unzahl von Tarieqas ihre Zelte für die Hadras aufgestellt. Das Geburtsfest des Propheten war ein echtes Volksfest hier, nur daß es statt Bier hier Dhikr gab.
Als unsere Hadra
zu Ende war, machte ich mit einigen anderen eine Runde um den Platz, um zu
sehen, was die anderen machten. "Im Sudan ist jeder in einer
Tarieqa", sagte einer unserer Begleiter, als wir uns über die große Anzahl
verschiedener Hadras wunderten. Am spektakulärsten war der Tanz einer Gruppe,
die anscheinend die Austreibung des Bösen spielte. Eine Figur wie ein Percht
oder Tresterer bei uns tanzte immer fast eine halbe Kreislänge vor der Meute
seiner Verfolger her. Die gebeugte Schar, die ihm hinterherlief, war konfus,
alle wurden abgelenkt durch die anderen Verfolger oder durch die Zuschauer, die
um den Kreis herumstanden und ebenfalls teilnahmen an der Jagd. Die Spieler
steigerten sich mit Trommel und Zimbelbegleitung in einen ekstatischen Tanz,
der von überall her Zuschauer anzog.
Der nächste Tag begann wieder mit Fragen an den Scheich. Es ging nun um das Verbot der Vielmännerei, während ein Mann doch mehrere Frauen haben durfte. Der Scheich sagte, das habe seinen Grund darin, daß ein Kind seinen Vater kennen müsse. Allerdings wußte dann jemand aus der Gruppe von einer neuen wissenschaftlichen Methode, durch die es möglich wäre, den Vater schon vor der Geburt exakt zu bestimmen. Damit war das Argument des Scheichs, kaputt. Die Übersetzer versuchten erst, das Problem durch Begriffstutzigkeit und vieles Reden zu verdrängen, aber dann war es doch klar, daß nur noch zu sagen blieb, Gott habe es eben im Koran so verordnet.
Am Nachmittag hat sich dann etwas verändert. Der freundliche alte Mann, so scheint es, hat es getan. Es begann mit weiteren Fragen über das Aurad und irgendwie begann ich einzusehen, daß sich bei denen, die es aushalten, sehr schnell Kraft aufbaut. "Wenn du die Power willst, mußt du geben", hatte Omar am Vortag zu mir gesagt und es ist klar, daß man, um Kraft zu bekommen, die natürliche Trägheit überwinden muß.
Der Scheich antwortete auf alle Fragen nur sehr kurz, wie halb im Schlaf, ganz versunken. Es schien, er konzentrierte sich. Und als wir dann am Abend zur Hadra gingen, diesmal in Khartoum in einem ähnlichen Set-up wie am Vortag in Omdurman, schwebten alle förmlich, ich jedenfalls und die Stimmung hielt darüberhinaus an und machte alle unglaublich leicht und freundlich. In Kairo war ich äußerst skeptisch gewesen, aber jetzt begann ich die Chance zu sehen, die in diesem Weg lag.
Zum Geburtstag des Propheten gingen wir zu beiden Hadras, sowohl in Khartoum als auch in Omdurman. Es ging bis zwei Uhr früh. Aber der Tag war überschattet von weiteren Demonstrationen, bei denen diesmal ein Student erschossen worden war. Man sagte, am Samstag würde es möglicherweise einen Putsch geben; deshalb müsse die deutsche Gruppe geschlossen abreisen, denn man wolle kein Risiko eingehen.
"Die Leute haben lange geschwiegen zu den ständigen Preissteigerungen", sagte Fausi, der in Deutschland aufgewachsene Sohn von Dr. Sanhuri, eines Bruders von Scheich Ghafar, "aber jetzt lassen sie es sich nicht länger bieten. Vor einigen Jahren hat es derartige Demonstrationen auch gegeben, aber nachdem Polizei und Armee einige Demonstranten erschossen hatten, war es wieder ruhig. Diesmal ist es anders, denn Numeri ist sehr unbeliebt und die Armee ist gespalten. Wenn es zu einem Putsch kommt, geht es ihm sicher an den Kragen."
Bei uns jedoch ging inzwischen alles weiter, als wäre nichts geschehen. Der Scheich erklärte das System der Kraftvermittlung in der Tarieqa. "Alle Kraft wird durch die Kette vermittelt", sagte er. Die Kette ist so etwas Ähnliches wie die apostolische Sukzession in den christlichen Kirchen, eine ununterbrochene Kette von autorisierten Scheichs, die zurückreicht auf Mohammed. Der Kraftfluß geht über die vier Grundpfeiler der islamischen Gemeinschaft, das sind die vier Ordensgründer Achmed Rifai, Abdel Kadr Kilani, Achmed al Bedaui und Ibrahim Desuki. Die Spitze der Pyramide ist Hussein, der Enkel des Propheten. Andere Sufi-0rden, erklärte Maulana Scheich, sind Zweige dieser vier großen, auf die sich alle Tarieqas zurückführen. Und ohne diese Kette gibt es keinen Zugang zu den Geheimnissen des Islam.
Was der Scheich da sagte, erinnerte mich an das, was Castanedas Lehrer gesagt hatte über die Schritte, denen man beim Lernen folgen muß, damit man sich nicht verliert. Ich brauchte so ein System von Schritten und da war es. Was also war das Hindernis? War es mein Ego, das nicht loslassen wollte, weil es sich vor seiner Auflösung fürchtete und daher ständig fürchtete, ausgetrickst zu werden? An sich hätte alles klar sein sollen, aber ich wartete weiter auf ein Wunder und das kam natürlich nicht.
Ich fragte nun
den Scheich über meinen Traum mit dem Licht in Somalia. Er sagte: "Das
Licht bedeutet, daß es einen Gott gibt. Somalia hat nichts zu bedeuten, denn,
wenn man schon einen Ort nennt für das Licht, dann ist es Medina, wo es
geblieben ist über dem Grab des Propheten." Ich war enttäuscht darüber, daß
er sagte Somalia habe nichts zu bedeuten. Warum hatte es dann ausdrücklich
Somalia geheißen? Aber ich fragte nicht nocheinmal nach.
Das eindrucksvollste direkte Erlebnis mit dem Scheich hatte ich am Freitag abend nach der Fragestunde für die Sudanesen, zu der auch der sudanesische Kultusminister gekommen war. Anschließend hatten auch die Deutschen Fragen stellen können, aber ich kam nicht dazu, denn meine Frage war zu persönlich für die Runde. Was ich auf dem Herzen hatte, war meine Zukunft, die für mich völlig im Dunkeln lag und auch in dieser Gemeinschaft, so schien mir, waren alle Kräfte darauf ausgerichtet, das in mir abzuwürgen, was ich als mein Eigenstes sah. Ich wollte den Leuten helfen, indem ich vor ihnen aufdeckte, was ihnen verborgen war, aber die Leute wollte offensichtlich lieber Geheimnisse, die sie unbesehen akzeptieren konnten. Manche hier gerieten in unglaublich euphorische Zustände. Sie glaubten, sie hätten das Wesen entdeckt, während ich sehen konnte, daß sie auf eine Hülle schauten, die erst vor wenigen Minuten vom Scheich über einen Gegenstand gelegt worden war, den sie vorher nicht bemerkt hatten. "Wie großartig es doch sein muß, sich selber betrügen zu können", dachte ich, aber ich ärgerte mich darüber, daß zu diesen Idioten gesagt zu werden schien: "Hallelujah, ihr habt es begriffen", während ich mit meinen Aufklärungsbedürfnis als Feind betrachtet wurde.
Diese Dinge gingen mir durch den Kopf, als ich an dem Abend vor dem Scheich saß, sinnigerweise zusammen mit einem der besonders eifrig Glaubenden, während die anderen schon aufgestanden waren, um sich etwas zu essen zu holen. Ich konnte meine Frage nicht stellen, aber ich konzentrierte mich darauf und versuchte sie in meinem Geist mit dem Bild des Scheichs zu konfrontieren. Ich war tief versunken. Da hörte der Scheich auf zu reden und ich blickte auf. Er sah mir genau in die Augen und mir war als würde etwas von ihm in mich eindringen und mich umhüllen. Es war unheimlich, aber gleichzeitig empfand ich es als so lieb, daß ich beinahe zu Weinen anfing. In diesem Augenblick aber kam jemand und deutete uns, aufzustehen, damit auch der Scheich essen konnte.
Samstag, hieß es, mußten alle abreisen. Aber ich wußte am Morgen noch nicht, ob das auch mich betraf, denn ich wollte auf keinen Fall mit den anderen zurückfliegen. Man hatte mir aber gesagt ich könne nicht bleiben, denn Maulana Scheich würde beschäftigt sein; andere sagten, er würde wahrscheinlich krank sein, nach all dem Müll der Gruppe, den er geschluckt hatte. Beim Frühstück geriet ich dann in eine hitzige Debatte mit Scheich Gazim, der unseren Aufenthalt hier organisierte. Er sagte,er habe strikte Anweisung, dafür zu sorgen, daß alle noch an dem Tag abfliegen. Die Lage sei sehr kritisch.
"Gestern sind einundzwanzig ostdeutsche Truppenausbildner aufgegriffen und sofort erschossen worden", sagte er. "Die gesamte Regierung des südlichen Sudan ist verhaftet und nach Khartoum gebracht worden. Als Europäer könntest du bei den jetzigen Zuständen überall verhaftet werden und dann kann es ein halbes Jahr dauern, bis sich der Sachverhalt klärt" usw.
Einige der Deutschen wurden böse mit mir, weil ich so hartnäckig blieb. Aber die hatten auch nicht vier Wochen in Kairo gesessen und auf das Visum gewartet, wie ich. Ich wollte wenigstens mit dem Zug zurückfahren, wenn die schon meinten, daß eine Fahrt nach Süden zu gefährlich wäre. Ursprünglich wollte ich ja mit einigen anderen der Gruppe, die auch noch im Land bleiben wollten, zuerst in die südlichen Provinzen fahren und dann von dort aus über Land nach Nigeria, um dort im Februar in Lagos Claude zu treffen. Aber schließlich lautete die Alternative ganz deutlich: entweder in Unfrieden von hier wegfahren und die Tarieqa vergessen oder mit den anderen zurückfliegen. So stimmte ich schließlich dem zu und fuhr mit dem Mann, der für unsere Tickets zuständig war, zum Flugbüro.
Es war eine abenteuerliche Fahrt. Anscheinend fuhr der Mann zum ersten Mal in seinem Leben Auto. Wenn er losfuhr, so mindestens im zweiten Gang, sodaß jedesmal der Motor abstarb und beim zweiten Versuch hüpfte der Wagen mehr vorwärts als er fuhr. Bei jeder Kreuzung betete ich, daß es keinen Zusammenstoß geben möge, aber erstaunlicherweise gab es bei den wenigstens zwanzig Beinahe-Kollisionen nicht einen Kratzer.
Das Flugbüro war noch geschlossen. So fuhr er mich zuerst auf eine kleine Tour durch die Stadt. Nun erst sah ich, daß bis auf eine Handvoll größerer Gebäude die ganze Stadt aus diesen Vorortbauten bestand wie in dem Viertel, in dem wir wohnten. Es schien weder Geschäfte noch Restaurants zu geben. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie diese Stadt funktionieren konnte.
Zuerst fuhren wir zum Zusammenfluß des weißen und des blauen Nils und dann, sinnigerweise, wo die Lage so gefährlich war, daß ich das Land verlassen mußte, weil angeblich ein Putsch gegen den Präsidenten geplant war, der jeden Augenblick losbrechen konnte, zum Haus des zu stürzenden Diktators. Die Wachen an den Toren machten nicht den Eindruck, als erwarteten sie eine Gefahr.
Als wir wieder zurückkamen, war das Flugbüro noch immer geschlossen. Daraufhin führte er mich zur Bank in dem großen Hotel "downtown". Dort sollte ich 288 Dollar einwechseln für das Ticket nach Kairo. Als ich die Summe hörte, streikte ich. Ich bin immerhin schon für weniger von San Francisco nach London geflogen und der Zug kostete nur siebzehn Dollar für die ganze Strecke. Während ich am Schalter stand, sah ich hinter mir die Touristen fröhlich im Hotel aus- und eingehen und so fragte ich, ob es irgendwelche Probleme gäbe. Der Beamte am Schalter sah mich verständnislos an: "Was sollte es für Probleme geben?" fragte er. "Wegen der Demonstrationen", sagte ich. "Ach die Demonstrationen!" sagte er mit einer wegwerfenden Handbewegung. Die gibt es hier jedes Jahr um diese Zeit. Es gibt keine Probleme. Sie können den Zug ohne weiteres nehmen. Wissen Sie, wo der Bahnhof ist?" Er erklärte dem Fahrer, daß ich den Zug nehmen würde, ich wechselte fünfzig Dollar für die Fahrkarte und wir fuhren zurück.
Doch nun war die Hölle los. Scheich Gazim war außer sich. Er sagte, daß ich unter allen Umständen heute fliegen müßte, weil die Tarieqa die Verantwortung nicht übernehmen könne und selbst wenn ich das Risiko selber tragen wollte, fiele es letztlich doch wieder auf die Tarieqa zurück, weil ich deren Gast gewesen sei. Wenn ich mir den Flug nicht leisten könne, sagte er, würde die Tarieqa ihn bezahlen.
Daraufhin wurden die Deutschen sehr aufgeregt. Verschiedene Wortführer meinten, sie könnten nicht zulassen, daß die Sudanesen auch noch mein Ticket bezahlten und sie begannen zu sammeln und innerhalb einer Minute, schien mir, hatten sie das Geld. Ich selber legte sechzig Dollar dazu, das, was ich für die Reise mit der Bahn gebraucht hätte hin und zurück.
Es tat mir sehr leid, daß alles so gekommen war. Mir schien, daß diese Unruhen im Sudan ein willkommener Anlaß für die Strategen der Tarieqa waren, zu demonstrieren, daß es im Islam allein auf das Heil der Gemeinschaft ankomme und daß das ohne Rücksicht auf die Wünsche Einzelner durchgesetzt werden müsse. Es hat auch nie einen Putschversuch gegeben. Ich habe die Sache dann von Kairo aus weiterverfolgt. Die Demonstrationen sind noch einige Tage lang weitergegangen, vereinzelt wurden auch noch Demonstranten erschossen, aber die Wahrscheinlichkeit für mich im Straßenverkehr von Kairo getötet zu werden, war auf alle Fälle wesentlich größer.
Erst jetzt fällt
mir auf, daß die totale Mondfinsternis, die wir an dem Abend erlebten, während wir
auf das Flugzeug warteten, wahrscheinlich die sudanesischen Wahrsager dazu veranlaßt hat,
den Putsch vorherzusagen.
Auf dem Flug zurück ließ ich nocheinmal die Ereignisse der letzten Tage an mir vorüberziehen. Wegen der Aufregung des Tages hatte ich jetzt Mühe, mich an die Fragen zu erinnern, die ich erst am Vormittag an Maulana Scheich gestellt hatte. Erst hatte ich gefragt, welche Rolle die Magie im Sufismus spielte. Ich bezog mich dabei auf ein obskures Ereignis, das Anfang Dezember in Kairo geschehen war. Eines Abends wurde uns gesagt, Maulana Scheich habe etwas für uns geschickt. Als ich fragte was, sagten sie: Eine Sure aus dem Koran. Ich dachte wir sollten sie lesen. "Nein du brauchst sie nicht lesen", sagten sie. Ich hätte sie auch gar nicht lesen können, denn ich hatte keinen Koran. Ich hörte dann nichts weiter davon, aber mitten in der Nacht wurden wir aufgeweckt und ein Topf mit Wasser wurde herumgereicht. Jeder sollte davon trinken. "Was ist das?" fragte ich. "Das ist von Maulana Scheich", sagte man mir. "Und was ist mit dem Wasser?" "Die zweite Sure aus dem Koran ist darin gekocht worden." Wird mich schon nicht umbringen, dachte ich und trank wie die anderen.
"Wozu dient das Wasser von gekochten Koransuren?" fragte ich also jetzt.
"Das ist für die, die dran glauben", sagte der Scheich "und den anderen schadet es nicht, hilft aber auch nicht."
Die Antwort fand ich sehr vernünftig. Aber dann sagte er etwas auf eine Frage über den Buddhismus, das mich wieder irritierte: "Der Buddhismus hat sehr viel getan für den Körper und für die Seele, aber er ist nicht von Gott". Als er dann auch noch einen Witz machte über die Aussicht als Hund wiedergeboren zu werden, wie seiner Meinung nach die Hindus sich das vorstellten, war mir klar, daß es da einiges gab, über das der Scheich nicht weniger Vorurteile hatte, wie seine Anhänger.
Trotzdem stellte ich noch meine Frage nach den verschiedenen Wegen und benutzte dabei die vier Wege des Yoga, wie Vivekananda sie beschreibt, als Beispiel; ich wollte wissen, ob es eine ähnliche Verschiedenheit bei den Sufis gäbe; ich sagte dazu, daß ich meinen Weg als einen Weg der Erkenntnis sähe, im Gegensatz zu den Wegen der Frömmigkeit, der Arbeit oder der Konzentration. Seine Antwort darauf war für mich sehr aufschlußreich, aber gleichzeitig mehrdeutig: Einmal sagte er, daß der Weg des Islam der einzig richtige sei und fügte ein Koranzitat hinzu, das auch im Aurad vorkommt: "Gepriesen sei Allah hoch über alles, was sie behaupten. Vom Übersetzer her klang es so, als hätte er etwas gegen die Methoden des Yoga gesagt, aber inzwischen sehe ich, daß das Wort ganz neutral ist und einfach bedeutet: Geh deinen eigenen Weg der Hingabe, das nämlich heißt "Islam", und kümmere dich nicht um das, was die anderen sagen, also auch nicht um die mohammedanische Doktrin. "Aber", so fügte der Scheich hinzu, "du brauchst einen Lehrer, der dir den Weg zeigt." Und das interpretierte ich als ein Angebot: Auch wenn mein Weg nicht ein Weg der Frömmigkeit war wie der der meisten anderen in der Tarieqa, könnte dennoch er mich führen.
Mit diesem Ergebnis ließ ich meine
Rekapitulation der Sudanreise ruhen und stellte mich wieder ein auf Ägypten.
Nach unserer Ankunft entstand in der Gruppe zunächst ein kleiner Konflikt, weil Rüdiger mit einigen anderen das Grab von Schäsuli besuchen wollte, einem wichtigen Scheich in der Kette. Scheich Ghafar allerdings riet dringend davon ab, doch Rüdiger und seine Gruppe fuhren trotzdem. Einige ärgerten sich über diese Eigenmächtigkeit. Ich ärgerte mich nicht; aber nicht, weil ich schon begriffen hätte, wie die Sache läuft, sondern weil die sich ärgerten, die sonst immer mich ärgerten durch ihre Bigotterie. Kariema hat mir dann geholfen, zu verstehen, indem sie mir erzählte, daß damals, als sie mit einigen anderen das Grab von Schäzuli besucht hatte, Scheich Ghafar genau die gleichen Bedenken gehabt hatte. "Die einzige Stimme, die dir sagen kann, was richtig ist, ist dein Herz", sagte sie.
Einigen von den Deutschen waren von Khartoum direkt nach Deutschland zurückgekehrt, die anderen erlebten in Kairo den Beginn des Geburtsfestes für Sayida Fatiha Anaboya mit, einer Tochter von Hussein. Und am nächsten Tag fuhren wir alle die Gräber der beiden Ordensgründer Ibrahim Desouki und Achmed al Bedaui besuchen; und auch den Vater von Ibrahim Desouki Sidi Abi al Magd.
Das war das Schönste; das Grab direkt am Nil in einem winzigen Dorf; Scharen von bakschischschreienden Kindern, gierig, wie ausgehungerte Katzen die Münzen und Scheine aus unseren Händen reißend, sobald sie aus den Taschen zum Vorschein kamen, übereinander herfallend, wenn sie sich zu kurz gekommen glaubten; echte Raubtiere in dieser Landidylle am Nil mit den uralten bunten Segelbooten der Fischer am Ufer und den fruchtschweren Feldern ringsum.
Desouk dagegen war ein Schlammloch. Lastwagenkolonnen hatten die Straßen knietief durchfurcht, auch um die riesige Moschee herum viel Schlamm. Die Stadt war offensichtlich ein landwirtschaftlicher Umschlagplatz. Überall lag Gemüse, auch an einem Weizenberg sind wir vorbeigefahren, und viele Lastautos.
Sidi Ibrahim war
nicht sehr gesprächig, trotz meiner vielen Fowatichs für ihn. Ich bemühte mich, ihn zu
sehen, aber der schwarzkuttige langbärtige Khomeinityp, der in meiner Phantasie auftauchte, wird es wohl
nicht gewesen sein. Laut Maulana Scheich
soll Ibrahim Desouki ja ein
Vollmondgesicht haben und das hatte der sicher nicht. Keine Erkenntisse, keine Erleuchtung, keine
Wallungen von Liebe. Aber trotzdem war der Trip wunderschön.
Am nächsten Tag erzählte Hussein, der Scheich von München, die Legenden von Scheich Mahmud Abu Bakr und Scheich Soltan Ali:
"Angeregt durch seinen Großvater hat sich Scheich Mahmud Abu
Bakr schon als Kind immer Gebetsketten besorgt und Aurad gemacht; aber sein Vater hat es ihm verboten; er sagte ihm: 'Davon wirst du wahnsinnig!' und hat ihm seine
Gebetsketten zerrissen. Aber der Bub hat sich immer wieder eine neue gemacht.
Er ist dann täglich über den Nil geschwommen, damit ihn niemand hören konnte und er hat am anderen Ufer laut Dhikr gemacht. Als Teenager hat er jahrelang nicht mehr als
eine Stunde am Tag
geschlafen. Dann, in seinen
Zwanzigerjahren
hat er von Ibrahim Desouki,
mit dem er
seit langem in Verbindung stand, den Auftrag bekommen, dessen inzwischen verkommene Tarieqa wieder aufzubauen. Dazu sollte er von den
heutigen Erben der Familie Ibrahim Desoukis gewisse Utensilien herausfordern, die jetzt nicht
mehr benutzt wurden, wahrscheinlich Trommeln, Fahnen, Reliquien oder
dergleichen.
Die Familie weigerte sich, damit herauszurücken. Daraufhin erhielt er wieder in
einer Vision den Auftrag, einen Prozeß gegen die Erben anzustrengen, er, der unbekannte
Ausländer, gegen eine angesehene ägyptische Familie. Er wurde in zwei Instanzen
abgewiesen, aber der oberste Gerichtshof von Ägypten gab ihm schließlich recht, weil er
zu seiner Beweisführung Angaben über Ibrahim Desouki und über die verlangten Utensilien machte, über die nur einer
verfügen konnte, der mit Ibrahim Desouki selber in Verbindung stand. Und damit begann diese Tarieqa, die Ahmedia-Tarieqa und deshalb wird Scheich
Mahmud Abu Bakr "Ahmedi" genannt, denn "Ahmed", heißt "der
Beweis".
Bei Scheich
Soltan Ali, scheint es, begann die Vermischung der Tarieqas schon in der Kindheit,
denn seine Mutter war eine Rifai, sein Vater gehörte einer anderen Tarieqa an.
Sowohl seine Mutter, als auch sein Vater nahmen ihn oft zu ihren Dhikrs mit und zu den Festen. Später
war er dann bei verschiedenen Scheichs in Ausbildung. Als letzten hat er dann
Scheich Mahmud Abu Bakr kennengelernt, aber das war erst, nachdem er schon
einige Jahre in Deutschland verbracht hatte. Er hatte politische Wissenschaften
studiert,
und war sogar wegen seiner politischen Betätigung im Gefängnis. Dann erhielt er
einen Lehrauftrag an der Universität
Tübingen. Kurz nachdem er nach Deutschland gekommen war, starb sein Vater, der ein großer
Scheich gewesen ist. Aber Scheich Soltan Ali konnte zu der Zeit wegen seiner
politischen Vergangenheit nicht nach Hause und so konnte sein Vater seinen
Auftrag nicht an den Sohn übergeben. Er gab ihn also seiner Tochter zur
Verwahrung, bis die Übergabe möglich wäre. Die Schwester von Scheich Soltan Ali
wurde daraufhin wahnsinnig, weil sie das Geheimnis nicht tragen konnte und als
nach drei Jahren Soltan Ali endlich zurückkonnte und den Auftrag übernahm, war
die Schwester schlagartig geheilt. Daraufhin verließ Soltan Ali seinen Lehrauftrag und ging nach
Berlin, um für die Türken zu arbeiten. Dann hat er Scheich Mahmud Abu Bakr getroffen
und von da an begonnen, die Ahmedia-Tarieqa in Deutschland zu verbreiten, bis seine
Idee, daß seine Kraft nicht durch Scheich Mahmud Abu Bakr vermittelt wird,
sondern von Allah direkt kommt, ihn dazu verleitet hat, seine eigene Tarieqa zu
gründen, was dann zu seinem Ende geführt hat.
Am Ende der Weihnachtsferien ist der Rest der deutschen Gruppe abgefahren. Ich bin geblieben und stand nun vor der Frage: Was tun?
Nach Österreich zurückfahren wollte ich nicht, denn von dort war ich ja weggefahren, um einen Lehrer zu finden. Auch die anderen fragten: "Was wirst du jetzt machen?" Ich wußte es nicht. Vielleicht in den Sudan zurückfahren, sobald die Krise dort vorüber war. Mein Visum lief ja noch bis Anfang Februar.
Da sagte Said Hafiz, einer der Verantwortlichen des Dar: "Wenn du hier bleiben möchtest, wird Scheich Ghafar einen angemessenen Job für dich finden. Ich werde mit ihm darüber sprechen."
Ich war neugierig wie Scheich Ghafar darauf reagieren wurde. Aber es kam keine Reaktion.
Eine von den
Deutschen war noch dageblieben, Christine. Sie hatte große Schwierigkeiten mit
den Regeln der Tarieqa.
Sie war eigentlich mehr an der Sudanreise interessiert gewesen als an der Tarieqa
und nun saß sie wieder hier. Wir wollten gemeinsam einen Ausflug nach Sakkara unternehmen und am Tag darauf wollte sie nach Sinai fahren. Aber am
Morgen unseres Ausflugs fühlte ich mich sehr schlecht und so blieben wir da und
gingen Tee trinken. Am Abend habe ich dann erfahren, daß Christine nach dem Tee
schlecht geworden ist und nun lag sie mit Schüttelfrost im Bett. Meiner Meinung nach war
es vor allem ihre Enttäuschung darüber, daß alle ihre Pläne nicht aufgingen, was sie so krank machte. Und mit ihrer Krankheit
fiel auch die Sinaifahrt ins Wasser. Sie lag übers Wochenende mit Fieber im Bett und als es ihr am Montag wieder besser ging,
kam Scheich Gamar, der
das Haus der Tarieqa verwaltet, und sagte ihr, daß sie ausziehen müsse, weil die
Polizei schon gefragt habe, wieso hier eine einzelne Frau wohne unter so vielen
Männern. Nichteinmal die Ägypter glaubten diese Begründung, aber sie mußte gehen. Das
Hussein-Hotel, das einzig akzeptable in der Umgebung, war besetzt, so steckte
man sie in das Hotel, in dem ich meine erste Nacht verbracht hatte. Und das war natürlich
ein Schock für sie. Als wir sie am Abend besuchen wollten, war sie
verschwunden. Erst Tage später erfuhren wir, daß sich ein Bruder der Tarieqa ihrer angenommen hatte, der
bereits mit zwei deutschen Frauen verheiratet ist.
Was Christina passiert ist in diesen Wochen, war ein Musterfall. Mir ging es im Grunde nicht anders. Ich fühlte mich wie Dr. Dasein in Frank Herberts großartiger Science Fiction Parabel "The Santaroga Barriere". Der Roman erzählt von Leuten in einem Tal, für die durch eine Droge, die sie benutzen, die Entfremdung, die alle außerhalb bedrückt, aufgehoben ist. In dieses Tal geht Dr. Dasein, um Ermittlungen durchzuführen und bei jedem Versuch, dem Geheimnis dieser Leute auf die Spur zu kommen, stößt er auf eine undurchdringliche Mauer. Umso mehr er bohrt, umso mehr häufen sich seltsam verknüpfte Zufälle, die ihn in lebensbedrohliche Situationen bringen, bis er schließlich durch eine Frau, die er liebt, dazu gebracht wird, seine kritische Haltung aufzugeben.
Ich konnte meine kritische Haltung nicht aufgeben, es gab zu viele Dinge hier, die mich irritierten. Gerade die Mauer, in die ich rannte in meinem Versuch, festzustellen, was hier wirklich lief, machte mich rasend. Was ich wollte, war doch so einfach: eine eindeutige Klärung der Zusammenhänge zwischen den religiösen Übungen der Tarieqa und den zu erwartenden Wirkungen. Ich wollte meine These verifizieren oder falsifizieren, daß es einen wissenschaftlich für jeden nachvollziehbaren Weg zum Heil gibt und welche Stufen dabei zu durchschreiten wären. Aber auf diese Fragen bekam ich keine Antwort. Ja auf den Versuch hin, sie zu stellen schon, erlebte ich die Mauer und mich als Feind, der die allerheiligsten Wahrheiten anzweifelte. Daß die normalen Mitglieder der Tarieqa diese Fragen nicht beantworten konnten, war mir klar, deshalb wollte ich sie ja vom Scheich selber beantwortet haben, aber nicht mit den mythologischen Kindermärchen, die ich schon hundertmal gehört hatte, sondern ganz sachlich: Was tut was. Dabei traf ich Scheich Ghafar jede Woche, oft mehrmals. Ich besuchte ihn in seinem Haus, saß da gelegentlich stundenlang, ohne daß sich je die Gelegenheit ergeben hätte, über diese Dinge zu sprechen.
"Mach dein Aurad", hieß es, "dann wirst du sehen, daß es genauso ist, wie wir sagen."
"Und wie lange wird das dauern?"
"Das kann man nicht sagen. Das hängt von deiner Konzentration
ab, vielleicht einen Monat, vielleicht
zwei Jahre.
Es hat aber
auch schon Leute gegeben, die nach zwei Jahren aufgehört haben; die werden es
natürlich nicht erleben. Aber die meisten haben es innerhalb von zwei Jahren gesehen". Das sagte Scheich Woachdan, der Stellvertreter Scheich
Ghafars. Mit Scheich Ghafar kam ich gar nie so nah an
den Kern der Sache
heran. Bei ihm hatte ich oft das Gefühl, daß der Grund, warum er bestrebt war,
die Tarieqa
in Deutschland anzusiedeln, einfach darin lag, daß er damit sein Prestige hier in Ägypten
erhöhen wollte und auch daß er für seine Leute einen Brückenkopf in Deutschland
bilden wollte; dazu,
schien mir, diente das Getue mit der deutschen Gruppe. Es gab einfach zu viele Gründe,
der Sache nicht zu trauen. Ich
überlegte daher, wie ich noch einen anderen, nichtislamischen Meister finden
konnte.
Vielleicht sollte ich nach Nigeria fliegen und dort gemeinsam mit Claude einen
alten Zauberer ausfindig machen, der mir meine Fragen beantworten konnte. Oder
ich fuhr nach Amerika.
Mustafa hatte mir die Adresse eines interessanten Mannes dort gegeben.
Schließlich ließ ich mir mein Visum in den Sudan verlängern. Die Krise dort war inzwischen vorbei.
Ich war geladen an dem Tag, als ich zur sudanesischen Botschaft ging. Diese Widerstände überall, das war zu viel. Zu allem Überfluß war vor ein paar Tagen noch ein Brüderpaar aus Berlin angekommen und die liefen mir dauernd über den Weg. Sie waren nach dem Besuch bei Scheich Mahmud Abu Bakr nach Mekka geflogen und kamen gerade von dort und sie strahlten vor Heiligkeit.
Foad mußte auch zur sudanesischen Botschaft und so gingen wir zusammen. Foad ist ein Sudanese, der in Ägypten studiert hat, aber er hatte das Studium satt. In zwei Jahren hatte er sich die Augen ruiniert durch das viele Lesen.
"Es ist schrecklich", sagte er, "ich brauche so lange zum Lernen, das ganze Leben freut mich nicht mehr, wenn ich studieren muß. Ich hoffe, daß mir Scheich Ghafar eine Arbeit verschaffen kann in Saudi-Arabien."
Ich mochte Foad, obwohl mir seine Begriffstutzigkeit und Tollpatschigkeit manchmal auf die Nerven gingen. Foad war bescheiden, wahrscheinlich der frömmste von allen Leuten hier, aber völlig unaufdringlich. Die meiste Zeit schien er geistig in einer anderen Welt zu sein und das machte ihn in praktischen Dingen sehr unbeholfen; aber durch seine Arglosigkeit fand er überall Helfer.
Nachdem Foad also seine Fowatich aufgesagt hatte vor dem Grab von Sydna el Hussein, gingen wir zum Bus. Wir warteten lange und als er endlich kam, hingen hinten schon die Leute heraus, unmöglich da noch hineinzukommen.
"Gehen wir!" sagte ich zu Foad.
"Gehen? Zur Sudanesischen Botschaft willst du gehen?" fragte Foad.
"Warum nicht? Ich sag dir, wir sind schneller zu Fuß wie mit dem nächsten Bus." Ich nahm Foad bei der Hand und riß ihn los und dann gingen wir. Ich war geladen mit dem Ärger der vergangenen Tage und als ob die Leute ahnten, daß mir heute alles egal war, wichen sie vor mir aus und ich ging schneller und schneller und Foad lief hinter mir her und umso mehr ich mich durchkämpfen mußte durch den Verkehr und gleichzeitig darauf achten, daß Foad mitkam, umsomehr spürte ich meine Kraft wachsen. Wir waren viel schneller als der Bus. Aber als wir bei der Botschaft ankamen, war sie geschlossen. Das Tor war verriegelt und bei den Fenstern für die Visa waren die Rolläden heruntergelassen. Vor dem versperrten Gitter stand eine Traube von Menschen, die mit dem Mann dahinter verhandelten. Ich sah mich schon geschlagen. Da sah ich einen der Männer, die die Visa bearbeiten, das Gebäude betreten und zur gleichen Zeit wurden einige Sudanesen durch das Tor eingelassen. Ich drängte mich mit ihnen durch und hoffte, daß Foad mir folgen würde. Als der Mann mich fragte, was ich wollte und ich ihm von dem Visum erzählte, sagte er, das Büro sei geschlossen. Ich sagte, ich hätte eben den zuständigen Beamten gesehen, da ließ er mich durch. Ich ging durch die selbe Tür wie der Beamte in das Gebäude hinter die herabgelassenen Rollläden und zeigte ihm mein Visum.
"Das gilt ja noch", sagte er. "Ja, aber ich brauche eine Verlängerung, weil ich den Termin nicht mehr schaffe."
"Das ist im ersten Stock", sagte er.
Ich lief hinauf in das Büro, in dem ich das letzte Mal meinen Paß abgeholt hatte. Der Beamte kam gerade herein und ohne zu zögern verlängerte er mein Visum um acht Tage und das gab mir gerade genug Zeit, meine Fahrt vorzubereiten und vielleicht sogar Abu Simbel zu sehen. Ich war glücklich.
Das ganze hatte keine fünf Minuten gedauert seit unserer Ankunft vor der geschlossenen Botschaft, da war ich schon wieder auf der Straße. Foad stand noch vor dem Gitter. Endlich ließ man auch ihn ein. Ich wartete. Dann führte ich ihn zum Büro der sudanesischen Luftlinie und half ihm herausfinden, was er mit seinem Rückflugticket in den Sudan anfangen konnte, falls er in Saudia arbeiten würde. Auf dem Weg zu unserer nächsten Station, der Hauptpost, fand ich ein schönes Feuerzeug auf der Straße. Alles ging Schlag auf Schlag an diesem Tag und mir wurde klar, daß sich alle Tore öffnen sobald sich die nötige Motivation angesammelt hat. Irgendeine Kraft in uns selbst wirkt auf unsere Umgebung, entweder so, daß wir an eine Mauer stoßen oder so, daß wir freie Bahn haben. Wonach ich suchte, war der Schlüssel zu dieser Kraft. Foad, so schien es, hatte einen Teil davon und ich den anderen. Den naiven Gehorsam, der Foad alle Tore öffnete, konnte ich nicht erwerben, das wußte ich, für mich mußte es einen anderen Weg geben, und darum mußte ich den Scheich fragen.
Mit dem verlängerten Visum fühlte ich mich wesentlich gestärkt. Ich beschloß aber, erst einmal alles zu tun, um hier eine Antwort zu erhalten und so vereinbarte ich mit Scheich Woachdan einen Termin, um ihm meine Fragen vorzulegen. Das war nach der Hadra am letzten Tag des Geburtsfestes für Sayida Fatiha Anaboya, der Tochter Sydna el Husseins. Alle von unserer Tarieqa gingen zu dieser Hadra. Die Moschee war zum Bersten voll. Und um die Moschee herum tanzten die Leute auf der Straße. Die winzigen Seitengassen der Umgebung waren seit zwei Wochen mit Lichtgirlanden geschmückt und die Feststimmung hatte sich von Tag zu Tag gesteigert bis jetzt, am Höhepunkt, schon der ganze Stadtteil erfaßt war von einem Getümmel und Spektakel, wie es nur im Orient zu sehen ist, am ehesten vielleicht vergleichbar mit einem lateinamerikanischen Karneval, nur ohne Alkohol.
Als der Termin für mein Gespräch mit Scheich Woachdan endlich kam, wurde mir gesagt, ich würde um die Zeit mit den beiden Berliner Musterschülern, die ich so sehr liebte, bei Scheich Ghafar erwartet, denn die beiden wollten noch in der Nacht abreisen. Ich befürchtete, daß das Gespräch mit Scheich Woachdan nun ausfallen würde, aber er meinte, es würde genügend Zeit bleiben.
Am Nachmittag zuvor kam Ute, die auch die ganze Zeit über
noch da gewesen war. Sie hatte einen Sitz im selben Flugzeug wie die beiden
Berliner. Sie strahlte, während sie mir von den wunderbaren Erlebnissen
erzählte, die sie in diesen Wochen hier gehabt hatte. "Ach, ich kann dir
gar nicht beschreiben wie lieb die alle sind", sagte sie. "Ich bin da
herumgereicht worden bei den Frauen der Tarieqa und sie haben sich gegenseitig übertroffen
in den Geschenken, die sie mir gemacht haben. Und dann die Familie, bei der ich
gewohnt habe! Also es fällt mir wirklich schwer abzureisen." Ich konnte es
sehen.
Es war eine Freude, ihre Begeisterung zu hören, sie freute sich so sehr, daß sie mich damit ansteckte. Ich ging mit ihr noch ein
Stück durch den Basar.
"Es ist
wie ein Gummizug", sagte
sie, als
wir uns verabschiedeten,
"mit dem ich mit Deutschland verbunden bin. So gern ich hier bleiben
möchte, es zieht mich zurück." Ein wehmütiges Gefühl blieb zurück in mir,
als sie ging.
Wie leicht
es ihr fiel. Keine Fragen... Hier war sie glücklich
und daheim in Deutschland würde sie wieder glücklich sein. Und ich blieb hier und
würde weiter auf Mauern stoßen.
Um halb sieben kam Scheich Gamar, um uns abzuholen. Er brachte uns zuerst zu Sayida Seynab, der Schwester von Sydna el Hussein, zum Nachtgebet, dann zu Scheich Ghafar. Bei Scheich Ghafar waren fünf Sänger der Hadra und sie sangen ihre Lieder. Nach einer Weile brachen alle auf, weil der Scheich von Zamalek, dem Stadtteil, in dem Scheich Ghafar wohnte, alle zum Abendessen eingeladen hatte. Er hatte eine riesige Wohnung gleich im Haus gegenüber. Nach und nach kamen dorthin auch noch die anderen Sänger der Hadra, außer den Star-Vorsängern und die gesamte Kairoer Führung der Tarieqa, mit uns mehr als zwanzig Männer, dann noch ebensoviele Frauen, die aber separat saßen. Während das Essen vorbereitet wurde, gab es weitere Hadragesänge. Als erstes kamen dann Garnelen, dann Fisch, und Süßigkeiten zur Nachspeise.
Die Unterhaltung nach dem Essen ging auf arabisch, nur Scheich Woachdan begann manchmal auf englisch, aber er setzte sich nicht durch. Dann fragte Mohammed, einer der beiden Berliner, was es mit der besonderen Beziehung von Ibrahim Desouki zu Deutschland auf sich habe. Scheich Woachdan hatte vorhin etwas mysteriös angedeutet, daß während des zweiten Weltkriegs etwas im Gang gewesen sei zwischen Ibrahim Desouki - dem Heiligen, der im l3. Jahrhundert gestorben ist - und einem deutschen Waffenlager Nummer dreizehn.
Und nun legte Scheich Ghafar los mit einer wirren Geschichte über die wirklich Großen dieser Welt, die ihre Macht immer gewissen politischen Mächten liehen, um ihre Pläne zu verwirklichen. Scheich Mahmud Abu Bakr, sagte er, sei einer dieser Großen als Repräsentant von Ibrahim Desouki. Und im zweiten Weltkrieg habe er seine Macht den Deutschen geliehen, deshalb seien sie so stark geworden. Vorher wäre England die Macht gewesen, die die Geschicke dieser Welt habe lenken dürfen, aber England wäre zu dieser Zeit ausgeschieden, weil es bereits zwei mal um Aufschub gebeten hatte und nun, bei der dritten Forderung, den Islam durchzusetzen, wieder gezögert habe. Rußland wäre schon vorher ausgeschieden, weil dort ein gottloses Regime herrschte. Deutschland sei schließlich aber doch besiegt worden, weil England im letzten Augenblick nocheinmal um Unterstützung gebeten hatte. Aber seit 1960 sei die Macht Englands endgültig gebrochen und die USA an seine Stelle gerückt. Und in den USA gäbe es heute Ahmedis in zweiundzwanzig Staaten.
Deutschland habe sehr viel für den Islam getan unter Hitler und deshalb habe es nach dem Krieg diesen ungeheuren Aufschwung genommen und werde die erste Macht werden, von der aus der Islam in die Welt hinein ausstrahlen werde.
Die Macht von Scheich
Mahmud Abu Bakr sei unermeßlich, sagte Scheich Ghafar und er sei weniger als der Schuh des
Scheichs in Khartoum.
Dann begann Scheich Ghafar über Scheich Soltan Ali zu sprechen. Als er in Hamburg war, sagte er, habe ein Anhänger von Scheich Soltan Ali ihm gegenüber behauptet, der Auftrag sei von Scheich Mahmud Abu Bakr genommen und an Scheich Soltan Ali übertragen worden. "Natürlich weiß ich", sagte Scheich Ghafar, "daß Soltan Ali so etwas nie gesagt haben kann, aber in dem Augenblick, in dem Ahänger von ihm auf diese Idee gekommen sind und sie ausgesprochen haben, mußte er schon aus eigenem Interesse sterben, um diese Idee aus der Welt zu schaffen." Er sei, sagte Scheich Ghafar, damals von Scheich Mahmud Abu Bakr nach Deutschland gesandt worden mit einer besonderen Botschaft für Soltan Ali, die nichteinmal er selber ganz verstanden habe, die aber Scheich Soltan Ali zur Vernunft gebracht hätte, wenn er sie empfangen hätte können. Er habe erst in München auf Soltan Ali gewartet. Durch Hussein wäre ein Treffen vereinbart worden, aber Soltan Ali sei nicht erschienen. Schließlich sei er nach Hamburg gefahren, um ihn dort zu treffen, aber genau in dem Moment habe Soltan Ali Hamburg verlassen und sei nach Süden gefahren.
Begonnen habe die Sache lange vorher, nämlich damit, daß Scheich Soltan Ali bei seinem letzten Aufenthalt in Ägypten vom islamischen Rat die Erlaubnis erhalten habe, mehrere Tarieqas zu vergeben, und das habe er gegen die Intention von Scheich Mahmud Abu Bakr gemacht. Das älteste Mitglied der Tarieqa in München, Hussein, habe daraufhin in einem Rundbrief dagegen Stellung bezogen und Mustafa habe in einem zweiten Rundbrief Scheich Soltan Ali verteidigt. Scheich Soltan Ali habe dann Hussein als seinen Vertreter in München abgesetzt und Maryam damit beauftragt, aber als Scheich Ghafar nach München gekommen sei und Maryam die Situation erklärt habe, habe sie ihre Funktion zurückgelegt und Scheich Soltan Ali sei ohne Stützpunkt in München gewesen. Deshalb sei Scheich Ghafar dann nach Hamburg gefahren.
Vom Flughafen aus, so sagte er, sei er dort ins Haus von Kariema gegangen. "Kariema hat das Geschenk des inneren Auges", sagte er, "deshalb konnte sie sehen, warum ich gekommen war." Und dorthin sei ein Abgesandter von Scheich Soltan Ali gekommen und habe zu ihm gesagt, die Hamburger Gemeinde sei die von Scheich Soltan Ali und Ahmedi und Ghafar bedeuteten nichts für sie. Er solle sie in Frieden lassen. Scheich Ghafar habe dann als Abgesandter von Scheich Mahmud Abu Bakr von dessen Autorität Gebrauch gemacht und den Mann gebeten das Haus zu verlassen. Kariemas Mann Omar habe an der Versammlung nicht teilgenommen, weil er von Scheich Soltan Ali in den Naqschbandi-Orden initiiert gewesen sei.
Scheich Ghafar habe dann eine Suite im Hamburger Plaza Hotel genommen für zweihundert Mark pro Tag, er sei dann aber der Einladung von Jutta gefolgt, weil es für die ehemaligen Anhänger von Scheich Soltan Ali dort leichter gewesen sei, ihn zu besuchen. Am Begräbnis von Scheich Soltan Ali habe er nicht teilnehmen können, weil er zu der Zeit einen weiteren Auftrag in London habe ausführen müssen.
Wie ich es erwartet hatte, ging mit diesen Erzählungen der Abend mit Scheich Ghafar zu Ende und es blieb keine Zeit für meine Fragen. Ich sah Scheich Woachdan bereits am nächsten Tag wieder, aber wieder ergab sich keine Gelegenheit für meine Fragen, denn jetzt wurde ein schwarzer Amerikaner, der lange in Ägypten gearbeitet hatte, in die Tarieqa eingeführt. Man lud mich ein, dabei zu sein. Die Hauptaufgabe dabei fiel Hamdi Gindi zu, dem Direktor einer Import-Export-Firma für Ölbohrequipment und Chauffeur von Scheich Ghafar. Er spricht ein nahezu akzentfreies Englisch und nun präsentierte er eine ausgefeilte islamische Theologie zur Schöpfungsgeschichte und er brachte sie in Zusammenhang mit der christlichen Formel "Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes".
"Der Vater", sagte er, "ist nicht Gott, sondern Gottes erstes Geschöpf, das Urlicht, das dann durch zehn Schleier nach unten sinkt und schließlich zur ersten Seele wird." Er sagte, der Islam sei die Religion, die die Erkenntnisse aller anderen Religionen in sich einschließe und daher sei der Islam die letzte Religion.
Irgendwie hatte
ich an dem Tag das unbestimmte Gefühl, in die Gemeinschaft aufgenommen zu sein. Ein
Zeichen dafür war mir auch, daß Zaid, der Fotograf, mir den Film gab, den ich in Khartoum gemacht hatte. Er hatte ihn entwickelt,
aber schon seit Wochen lief ich deswegen hinter ihm her und ich hatte schon den
Verdacht, der Film sei wegen meiner Skepsis sozusagen "eingezogen"
worden. Auch bei den Gebeten hatte ich an dem Tag den Eindruck, daß sie nicht
mehr einfach ins Leere verhallten.
Aber am nächsten Tag war ich wieder deprimiert und verkühlt und trotzig. Während ich mein Aurad machte, fing Schäms seine Hadra-Gesänge zu singen an. Schäms war auch einer von den jungen Sudanesen hier. Ich wußte nicht warum, aber ich konnte sein Singen nicht aushalten. Er war mit solcher Inbrunst dabei, daß es mir den Magen umdrehte. Und dann zog er das Bild von Maulana Scheich aus der Tasche und starrte mich an und fragte: "Weißt du, wer das ist?" und er fragte mit solcher Gier auf eine Antwort, daß ich nichts darauf sagen konnte. Und er fragte immer wieder und schaute dabei auf das Bild mit unglaublicher Treuherzigkeit und er küßte es und steckte es wieder in die Tasche. Dann begann er wieder zu singen. Ich konnte es nicht mehr aushalten, ich mußte aus dem Zimmer gehen. Aber er verscheuchte seine Angst damit und er sang bis es ihm wieder gut ging. Seine Naivität war für mich herzzerreißend und dadurch erinnerte ich mich daran, daß Jesus gesagt hatte: "Gelobt sei Gott, der dies den Kleinen geoffenbart, den Klugen und Großen dieser Welt aber verborgen hat." Alle hatten diese Naivität hier, aber wie konnte ein Europäer sie bekommen? Keiner von den Scheichs hier, schien mir, konnte auch nur annähernd den kritischen Geist der technologischen Kultur verstehen. Ihre Welterklärung stand im unvereinbaren Gegensatz dazu, aber das, was sie verstanden, wirkte.
Die Religion hier war zwar das Opium des Volks, aber sie bewirkte, daß diese Leute ihr ganzes Leben wie die Kinder leben konnten, mit kindlicher Sorglosigkeit und mit kindlichem Klarblick.
Der Blick, das wars, es war mir schon von Anfang an aufgefallen, besonders in den Moscheen, der Blick war ganz anders wie bei uns. Sehr viele Leute hier hatten diesen gelösten, unschuldigen, offenen Blick, der zeigte, daß sie sich vollkommen behütet wußten. Und daher waren sie frei. Für die Leute hier war es einfach, denn sie hatten ihr Leben lang nichts anderes gehört, aber was konnte ein Europäer tun, der sein Leben lang gelernt hatte, alles in Frage zu stellen?
Ich fühlte mich in der gleichen Lage wie Castaneda, bei dem ich damals nie verstanden hatte, warum er die Lehren Don Juans so schrecklich fand. Und nun fand ich selber alles schrecklich: diese Übungen, diese Anstrengung und daß das nie mehr aufhören sollte und daß darin der Himmel liegen sollte. Alles in mir wollte sich festhalten und sich nicht hergeben und das verursachte meine dauernden Erkältungen und Depressionen.
Die kleinsten Anlässe konnten mich in diese Verkrampfung bringen und ich wußte nicht, wie herauskommen. Einmal in diesen Tagen ging es mir bei der Hadra sehr gut. Ich flog beinahe weg, bis sich einer, den ich, ich weiß auch nicht warum, nicht ausstehen kann, von hinten in meine Reihe drängte und dadurch mein Platz etwas enger wurde. Von dem Moment an hing meine Aufmerksamkeit an ihm und ich konnte nicht aufhören, mich zu ärgern. Erst gegen Ende der Hadra ging es mir wieder besser und da fiel mir auf, daß genau die Zeit, die ich mich geärgert hatte, Scheich Ghafar abwesend gewesen war. Andere haben schon oft von der Kraft gesprochen, die von Scheich Ghafar ausgeht, aber das war das erste Mal, daß ich es auch sehen konnte.
Oft, wenn ich
deprimiert war, konnten sich die Brüder noch so bemühen, mich herauszureißen,
es gelang
nicht, etwas in mir war eingeschnappt und das Bemühen, es zum Aushaken zu bringen, verschloß mich noch mehr. Gewöhnlich
bemerkte
ich den Umschwung der Laune dann kaum, aber einmal
in diesen Tagen konnte ich es genau beobachten. Ich lag deprimiert auf meinem Bett und das ganze Treiben
um mich her beleidigte mich. Da ahmte Schäsuli mit seinen Zähnen und mit den Fingern das
Geräusch eines
Vogels nach und unwillkürlich setzte ich mich auf und machte es ihm nach und
der Bann war gebrochen. Und
gleich begann Schäsuli
ein Lied auf mich zu singen, dann mußte ich eins auf ihn und Mistien machen und alles war
bestens,
bis ich wieder versuchte, meine Fragen beantwortet zu bekommen.
Mein letzter Termin für meine Sudanreise rückte näher und näher, aber es ergab sich kein Gespräch. Als ich dann Scheich Ghafar sagte, daß ich Scheich Mahmud Abu Bakr nocheinmal sehen wollte, kam er wieder mit seinem alten Argument von der schlechten Versorgungslage und den hohen Hotelpreisen. Am letzten Tag vor meinem letztmöglichen Abreisetermin versuchte ich ihn nocheinmal zu sprechen, aber er richtete es wieder so ein, daß keine Zeit blieb; nur im Vorbeigehen sagte er, daß es besser wäre, wenn ich nicht in den Sudan fahren würde, aber er würde am nächsten Tag nocheinmal mit mir darüber sprechen.
Ich mußte am Morgen gleich mein ägyptisches Visum nochmals verlängern lassen, damit ich an der Grenze keine Schwierigkeiten bekam. Am Nachmittag traf ich Sef und der sagte mir, wenn ich in den Sudan fahren wollte, sollte ich mich um die Meinung von Scheich Ghafar nicht kümmern, sondern einfach fahren, aber ich fuhr trotzdem zu Scheich Ghafar. Zuvor jedoch fragte ich auch das I Ching, was geschehen würde, wenn ich einfach ohne sein Einverständnis fahren würde. Die Antwort war niederschmetternd: "He will be straightened before a frowning rock", hieß es da in meiner Übersetzung.
Einige Ägypter aus dem Dar waren in der Wohnung des Scheichs und Scheich Ghafar führte gerade ein Gespräch mit jemand. Ich wunderte mich, daß manche Leute ständig bei ihm waren, und warum es für mich so schwierig war, auch nur einige Minuten seiner Zeit zu bekommen. Jetzt war es auch wieder so. Gleichzeitig mit mir waren einige Leute aus Assuan gekommen und nun sprach er mit uns allen gleichzeitig, aber immerhin, nachdem er das mit den teuren Hotels nocheinmal gesagt hatte, fügte er hinzu: "Außerdem geht der Scheich jetzt nach Port Sudan und im Monat März kommt er ja hierher nach Kairo. Da kannst du ihn fragen soviel du willst. Wenn du eine Vergnügungsreise machen willst in den Sudan, dann kann ich dich nicht abhalten, aber wenn du für die Tarieqa fahren willst, dann höre meinen Rat und bleibe hier bis Scheich Mahmud Abu Bakr herkommt. Es ist ja nur noch ein Monat, dann ist er da."
Das war das
erste Mal, daß er überhaupt mit mir gesprochen hatte und sein Ton überzeugte
mich. Aber als ich dann zu Hause war und Schäsuli mich nach dem Ergebnis fragte, fühlte ich mich
wie nach einer Niederlage. Ich war plötzlich sehr müde und legte mich schlafen. "Wenn ich nicht
träume, daß ich unbedingt in den Sudan muß, fahre ich nicht", sagte ich. Ich schlief
extra lange, aber ich träumte nichts davon.
0: Inhaltsverzeichnis
1: Ein Lehrer wird
gebraucht und er erscheint
2: Der Lehrer wird
getötet und die Reise beginnt
4: Bei den Schülern des Lehrers des Lehrers
5: Die
Deutschen kommen
6: Der Geburtstag von Sydna
el Hussein
7: Der Scheich wird erwartet
8: Maulana
9: Was
nun?
l0: Meine Fragen
11: Die Antwort
Verzeichnis der
arabischen Ausdrücke