Trauma
20.9.2007
Viele
Menschen haben eine Verletzung erlitten und können sich davon nicht erholen.
Was
kann ihnen helfen?
Im
Fall von Missbrauch sind Frauen, die von ihrem Vater missbraucht worden sind
oder Jungen, die von einem Onkel missbraucht worden sind, oft innerlich
gespalten: einerseits lieben sie den Vater oder den Onkel, andererseits hassen
sie ihn und deshalb tabuisieren sie die Geschichte, die sie aber trotzdem nicht
in Ruhe lässt, weil die manchmal nur latente Erinnerungen an den Missbrauch oft jeden sexuellen Kontakt unmöglich macht
oder zu anderen Beziehungsstörungen führt.
Heutige
Psychologen raten oft, zunächst die Wut über den Missbrauch zuzulassen. Doch
dann sind sie manchmal am Ende ihrer Weisheit. Und aus dieser Hilflosigkeit
entsteht eine Art Dogma, das sich vor allem gegen die christliche Idee des Verzeihens
richtet, denn „so etwas kann man nicht verzeihen!“
Natürlich
fällt es Menschen, die sich schwer zum Bewusstmachen des Missbrauchs
durchringen haben müssen, schwer, die so gewonnene Wut loszulassen und in ihrer
Entwicklung weiterzugehen. Das Loslassen des Grolls erscheint ihnen wie ein
Verrat an sich selbst oder an der Gerechtigkeit oder an den Werten der
Menschheit. Aber es ist klar, solange ein Groll da ist, kann ein Mensch keinen
wirklichen Frieden finden.
Wie kann
ein Missbrauchsopfer also Frieden finden?
Auf
der Suche nach einer Antwort auf diese Frage haben Menschen eine Lösung
gefunden. Sie haben einen Schritt über sich hinaus gemacht und versucht, zu
verstehen, was in dem Täter vorgegangen sein muss, welche inneren Dialoge dem
Missbrauch vorangegangen sein müssen.
Auf
diesem Weg ist ihnen klar geworden, welche inneren Spannungen in dem Täter
aufgetreten sein müssen. Denn natürlich fühlen auch die Täter, dass das, was
sie da tun nicht in Ordnung ist. Die innere Schranke, in die Freiheit eines
anderen Menschen derart intim und massiv einzugreifen, ist bei allen Menschen
hoch. Schwere Tabus stehen einem Übergriff entgegen. Dennoch ist es zu dem Übergriff
gekommen. Welche Kräfte waren da am Werk? Warum sind diese Kräfte so stark
geworden, dass sie die Tabuschranke durchbrochen haben?
Der
sexuelle Antrieb ist stark. Und wegen der Gefahr von Übergriffen stehen diesem
Antrieb eine ganze Reihe von Tabus gegenüber, die unter normalen Umständen dazu
führen, dass die Sexualität so kanalisiert wird, dass das Überleben der Gesellschaft
gesichert, und auch die Freiheit der Individuen gewahrt ist. Durch besondere
Konstellationen kann es aber geschehen, dass der normale Ausdruck des sexuellen
Drangs in irgendeiner Weise blockiert wird. Dann baut sich Druck auf und der
Druck sucht einen Ausweg und so kann der
Ausdruck der Sexualität perverse Formen annehmen und sich beispielsweise auf
Kinder richten.
Die
Menschen, die versucht haben, herauszufinden, wie so etwas wie sexueller
Missbrauch möglich ist, haben entdeckt, unter welch massivem Druck die Täter
gestanden haben. Und so haben sie gelernt, zu verstehen, wie es zu dem
Missbrauch gekommen ist. Sie haben Mitgefühl für den Täter entwickelt. Sie
haben erkannt, dass der Täter das erste Opfer war.
Dieses
Mitgefühl für den Täter haben sie dann so weit entwickelt, dass sie sehen
konnten, dass der Täter auch ein ganz normaler Mensch ist, der versucht, das
Gute zu tun und das Schlechte zu meiden, dass er es aber einfach nicht
geschafft hat, weil der Druck zu groß war. Sie konnten sehen, dass sie das, was
in dem Täter ablief, durchaus auch von sich selbst kannten, wenn auch nicht in
dieser Form, sondern in anderen Angelegenheiten, in denen es keine derart
gravierenden Auswirkungen gab. Indem sie ähnliche Prozesse in sich selbst
entdeckten und sahen, dass es bei ihnen selbst auch Dinge gab, die sie nicht
unter Kontrolle hatten, konnten sie sehen und nachfühlen, dass es keinen wesensmäßigen
Unterschied zwischen ihnen und dem Täter gab, sondern dass der Täter ein Mensch
war, wie sie selbst auch.
Nun
konnten sie Mitleid empfinden mit dem Täter. Sie konnten sehen, dass es im Grunde
purer Zufall war, dass sie nicht dessen Schicksal hatten, weil der Täter doch
aufgrund seiner genetischen Struktur und seiner persönlichen Geschichte eben zu
dem geworden ist, was er war, so wie sie durch die Zufälle ihrer Geschichte zu
dem geworden waren, was sie waren: Opfer. – Und auch Opfer werden ja nicht
alle, sondern es braucht dafür manchmal eine besondere Disposition!
Natürlich
fragten sie sich dadurch auch nach der Rolle der menschlichen Freiheit. Aber wie sie bereits bei sich selbst gesehen
hatten, war die Freiheit beschränkt. Sie erkannten sogar, solange sie dem Täter
gegenüber Rachegefühle hatten, waren sie selbst von Freiheit noch weit
entfernt. Ihre Freiheit begann erst dort, wo sie das Verhängnis, das über Täter
und Opfer lastete, nicht fortsetzten, sondern auflösten. Erst da waren sie es,
die bestimmten, was geschah, alles vorher war nur blindes Reagieren. Wie
konnten sie daher beim Täter einen freien Willen erwarten, wo sie diesen doch
selbst nicht hatten?
Doch
jetzt, wo sie verstanden, wie das alles möglich geworden war, hatten sie die
Voraussetzungen für eine freie Entscheidung. Nun konnten sie dem Täter ihr
Mitgefühl entgegenbringen.
Sie
entschlossen sich, das zu tun. Sie suchten den Täter vielleicht im Gefängnis
auf und zeigten ihm ihr Mitgefühl. Und der Täter erkannte, dass er nun zum
ersten Mal in seinem Leben einem Menschen gegenüberstand, von dem keine
Verurteilung ausging. Vielleicht war es ihm bei der ersten Begegnung noch nicht
möglich, dieses Angenommensein zuzulassen. Vielleicht
erschien es ihnen wie ein Trick. Aber mit der Zeit waren sie gegen das
Mitgefühl machtlos, so wie sie vorher anderen Gefühlen gegenüber machtlos
gewesen waren.
Sie,
die so sehr von ihrem Mitgefühl abgeschnitten gewesen waren, dass sie
vielleicht sogar einen Mord begangen hatten, begannen zu begreifen, was sie
Furchtbares angestellt hatten.
Solange
sie beschuldigt worden waren, konnten sie dieses Bewusstsein in sich nicht
hochkommen lassen, denn es hätte sie vernichtet. Doch jetzt, wo ihre
menschliche Basis anerkannt worden war, wo sie also nicht mehr der Vernichtung
preisgegeben waren, konnte sie es sich erlauben, zu fühlen, was sie getan
hatten. Und damit kam in ihnen der Prozess in Gang, der einen Menschen zu einem
wirklichen Menschen macht, echte zwischenmenschliche Kommunikation, Mitgefühl.
Nun gab es auch für sie die Möglichkeit einer freien Entscheidung, nämlich
dazu, dem Verhängnis ein Ende zu bereiten, zuerst indem sie das Verhängnis
lüfteten, das über ihnen lag und dann, indem sie daran mitwirkten, dass auch
andere ihr Verhängnis erkennen und aufheben konnten.
Von
dem Moment an mag die Strafe, die sie vielleicht verbüßen müssen, ihr Schicksal
sein, aber von dem Moment an sind sie sogar in Ketten frei, freier als die
meisten von denen, die ohne Ketten draußen herumlaufen.
Und
damit hat jedes Trauma ein Ende.