Spiritualität und Psychiatrie

 

Spiritualität ist die in jedem Menschen angelegte Fähigkeit, die Perspektive des Ganzen einzunehmen. Diese Perspektive dient dazu, sich in der Wirklichkeit korrekt zu positionieren. Darauf beruht auch die Arbeit mit Spiritualität in der Psychiatrie. Traditionen und Brauchtum werden nur insofern einbezogen, als wir es mit individuellen Menschen mit individuellen Wertvorstellungen zu tun haben, die aus solchen Traditionen stammen. Es geht in der spirituellen Arbeit also in keiner Weise darum, einem Menschen etwas aufzudrängen oder ihm etwas zu nehmen. Der spirituelle Berater hat keine eigenen Vorstellungen über die Zukunft des Klienten. Er möchte nur verstehen. Doch durch seine auf die ganze Lebenswelt bezogenen Fragen wird er immer wieder den Horizont des Klienten überschreiten, so dass dieser selbst von dem erweiterten Horizont aus mehr von seinen realen Möglichkeiten des Lebens erkennen kann.

Spiritualität bedingt die Annahme einer allgegenwärtigen schöp­ferischen Kraft, die die Welt, uns Menschen und jede Situation in einem fortwährenden evolutionären Prozess hervorbringt. Spiritualität setzt bei der Nutzung dieser Kraft an. Die biblische Tradition spricht von der Möglichkeit eines „Bunds zwischen Gott und den Menschen". Dieser Bund beruht darauf, dass ein Mensch die Perspektive dieser Kraft einnimmt, die alle und alles einschließt – natürlich auch die Möglichkeit der Krankheit. In ihrer Perspektive zeigt sich, wie es zur Krankheit kommt und welche alternativen Wege es gibt.

Der Weg der Anonymen Alkoholiker ist ein Beispiel für diesen Zu­sammenhang: Indem sie in den ersten ihrer zwölf Schritte vor der „höheren Macht" kapitulieren, sehen sie ihr Leben aus deren höherer Perspek­tive. Sie nehmen die inneren Haltungen wahr, die sie zu Trinkern machen und sie sehen aus dieser Perspektive, welche anderen Haltungen ihnen zur Verfügung stehen, die ihnen stattdes­sen ein Leben erlauben, das ihnen inneren Frieden gibt. Wenn es einem Menschen daher gelingt, die Perspektive der schöpferischen Kraft einzunehmen, wird er eine Lösung, ja „die Erlösung" für sich selbst erkennen können. Daraus wird ein Vertrauen resultieren, das auch seine Selbstheilungskräfte stärken wird. Er wird aber auch sehen, dass es nicht um ein Verschwinden sämtlicher Handicaps geht, sondern um inneren Frieden. Diesen Prozess zu unterstützen, ist die zentrale Aufgabe eines spirituellen Beraters in seiner Arbeit mit psychisch kranken Menschen.

Das gibt natürlich Anlass, zu überlegen, welche Voraussetzungen insbesondere ein Psychiatrieseelsorger für diese Arbeit mitbringen muss – weil in diesem Fall die Absolvierung theologischer und therapeutischer Curricula allein noch nicht ausreicht. Ein erfolgreich wirkender spiritueller Berater oder Psychiatrieseelsorger muss seine eigene Spiritualität entwickeln. In dem Maß, in dem ihm das gelingt, wird er über die Gabe der Empathie verfügen und seine Intention wird eine Heilintention sein. Erst diese Intention wird messbar wirken.

 

Gefahr durch übertriebene Hoffnungen

Damit ist schon auf die Gefahr hingewiesen, durch übertriebene Hoffnungen unnötigen Druck oder gar Schuldgefühle in den Patienten zu erzeugen. Als Seelsorger oder Therapeuten müssen wir bedenken, dass die gegebenen Umstände Patienten daran hindern können, einen bereits erkannten Lösungsweg konkret zu gehen. Vielleicht hindert sogar unser eigener Mangel an Vertrauen den Patienten daran, seiner Vision zu vertrauen. Außerdem sind wir nicht die einzigen Personen, die Einfluss nehmen. Auch andere können das Vertrauen erschüttern oder zu­nichte machen. Darüber hinaus können die vielfältigen Ver­strickungen des Patienten ihm und uns den Weg zu einer wirklichen Heilung als einen schier übermenschlichen, nicht zumutba­ren Kraftakt erscheinen lassen. Aus diesen Gründen werden viele Patienten den Ausweg, der sich aus der Perspektive des Ganzen zeigt, nur zu einem gewissen Teil gehen können. – Auch das gehört zur Perspektive des Ganzen.

 

Medikamente

Aufgrund der Bedingungen der Krankheit wird dieser spirituelle Weg der Heilung Medikamente nicht ausschließen, sondern einschlie­ßen – so lange sie auf diesem Weg hilfreich sind und so lange keine bessere Lösung in Sicht ist. Alle Mittel müssen eingesetzt werden, damit ein Mensch, der nicht nur beeinflusst, sondern gefangen ist in Welten des Unbewussten, sich wieder orientieren kann. Ganz klar wird er aber erst wieder orientiert sein, wenn er auch die spirituelle Dimension mit einbezieht, wenn er in seinem Bewusstsein also Anschluss findet an die Perspektive jener universellen schöpferischen Kraft, die auch seine Existenz begründet.

 

Die Perspektive des Ganzen

Spiritualität, wie sie hier gemeint ist, ist in jeder Religion möglich und sie geht gleichzeitig über jede Religion hinaus. Es handelt sich einfach um die menschliche Fähigkeit, sich selbst im Gesamtzu­sammenhang des Ganzen zu sehen. In dieser ganzheitlichen Sicht zeigt sich der Mensch als Resultat einer Evolution, die in jedem ihrer Stadien wie im Gesamten wunderbar ist. Der Mensch, der seine spirituelle Fähigkeit entwickelt, sieht sich zunehmend als eine Manifestation der Kraft, aus der das ganze Universum hervorgegangen ist. Und er spürt, dass diese Kraft die ganze Entwicklung und ihn selbst immer noch trägt. Er sieht diese Kraft aber auch in seiner gesamten Umwelt am Werk – und dass niemand ausgeschlossen ist. Jeder darf sein. Jeder ver­dient vollen Respekt als eine Erscheinung der großen schöpferischen Kraft.

Die neue, ganzheitliche Perspektive löst beängstigende alte Ansichten ab, wie die Bewertung durch die Gesellschaft oder die eingeengte Perspektive, die aus den zufälligen verhängnisvollen Umständen der persönlichen Geschichte entstanden ist.

Aus Unsinn wird Sinn und Sinn bündelt die Kraft.

Sobald ein Mensch die Perspektive des Ganzen bewusst wahrgenommen hat, kann er es wagen, die krankmachenden Perspektiven zu transzendieren und trotz aller auf sich gerichteten, herabsetzenden Bewertungen sich als das Zentrum des Universums zu betrachten, als das Wertvollste, das es für ihn gibt. Aus die­ser Wertschätzung heraus wird dieser Mensch fähig, sich selbst anzunehmen – auch samt sei­ner Schwächen. Ausgehend von dieser Basis kann er sich selbst nach und nach immer weiter entdecken, indem er versucht, ehrlich zu leben. Das geht auf Dauer nur durch eine Art fortge­setzter Übung: Statt der eingeengten Perspek­tive, die sich gewohnheitsmäßig immer wieder einstellt, wählt der Betroffene immer wieder die Perspektive des Ganzen. Darin liegt sein Weg zur „Erlösung". Darin erscheinen dann nach und nach auch die konkreten Lösungen, für die anstehenden Herausforderungen seines Lebens – ohne dass er in besonderer Weise nach dem Grund seiner Handicaps suchen müsste.

 

Einbeziehung in das Gesamtkonzept der psychiatrischen Behandlung

Dieser ganzheitliche Weg, der einem zuvor Aussichtslosen Sinn und eine Zukunft gibt, ist nicht auf die Tradition der Bibel beschränkt. Er schließt niemanden aus. Auch Atheisten werden sich in dieser menschlichen Sicht wiedererkennen und sie mit Gewinn anwenden.

Gewinn bedeutet einen Beitrag zur Heilung – und damit auch eine Reduktion weiterer Behandlungskosten. Aus diesen Gründen sollte die Psychiatrieseelsorge in das Gesamtkonzept psychiatrischer Versor­gung einbezogen werden. Der reale Anteil der Psychiatrieseelsorge am Prozess der Heilung liegt im öffentlichen In­teresse und auch im finanziellen Interesse der Krankenkassen und sollte daher auch entsprechend honoriert werden.

Überdies muss sich die Medizin als Wissen­schaft der spirituellen Dimension bewusst werden, auch in ihrer Betrachtung dessen, was sie als „Krankheit", als „Therapie" und als „Gesundheit" bezeichnet. Die Medizin sollte die Spiritualität als einen realen, also messbaren Faktor der Therapie erkennen und durch den Einsatz von Seelsorgern in ihren Heileinrichtungen für die Ausbildung dieser wichtigen menschlichen Fähigkeit sorgen.

Das gibt natürlich Anlass, zu überlegen, welche Voraussetzungen insbesondere ein Psychiatrieseelsorger für diese Arbeit mitbringen muss – weil in diesem Fall die Absolvierung theologischer und therapeutischer Curricula allein noch nicht ausreicht. Ein erfolgreich wirkender spiritueller Berater oder Psychiatrieseelsorger muss seine eigene Spiritualität entwickeln. In dem Maß, in dem ihm das gelingt, wird er über die Gabe der Empathie verfügen und seine Intention wird eine Heilintention sein. Erst diese Intention wird messbar wirken.

Gottfried Hutter  München

 

Der Autor ist Theologe und Psychotherapeut, engagiert im interreligiösen Dialog und seit 1987 als Seelsorger in einer psychiatrischen Nachsorgeeinrichtung (Haus an der Teutoburger Straße) in München tätig.

Auf seine konzeptionelle Vorarbeit und Initiative hin hat die Erzdiözese München 2001 eine Stelle für außerklinische Psychiatrieseelsorge eingerichtet.

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